Abschnitt aus dem Buch: Lösungsansätze für Berg-Karabach / Arzach, Selbstbestimmung und der Weg zur Anerkennung, Nomos 2010, Vahram Soghomonyan (Hrsg.)
I. Moralisch-politische Legitimität der Selbstbestimmungsforderung der Armenier von Berg-Karabach in geschichtlicher Perspektive
Der Streit um Berg-Karabach (armen. Arzach) ist der älteste der ungelösten interethnischen Konflikte auf dem Territorium der untergegangenen Sowjetunion und der einzige, der zwei ihrer ehemaligen Unionsrepubliken – Armenien und Aserbaidschan — entzweit[1]. Dass man ihn bis heute nicht hat lösen können, ist denn auch kein Zufall, denn der Konflikt hat tiefere Wurzeln als alle sonstigen interethnischen Konflikte im postsowjetischen Raum. Seinen Grund hat er letztlich in der Pathologie des türkisch-armenischen, armenisch-türkischen Verhältnisses seit dem 19. Jahrhundert, die in dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 ihren Gipfel erreichte. Mit dieser Geschichte aber sind die aserbaidschanisch-armenischen Wechselbeziehungen im 20. Jahrhundert auf mannigfache Weise verwoben. Beide Komplexe bilden, das zeigt die Geschichte des Südkaukasus besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine untrennbare Einheit. Eine friedliche Lösung des Konflikts ist dadurch natürlich nicht ausgeschlossen. Seit der Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Aserbaidschan, Armenien und Berg-Karabach vom Mai 1994 gab es Situationen, in denen man sich einer friedlichen Lösung des Karabach-Konfliktes durch einen ethno-territorialen und politischen Interessenausgleich zwischen den Konfliktparteien anzunähern schien[2], und seit dem Georgienkrieg vom August 2008 ist erneut Hoffnung auf einen politischen Kompromiss aufgekommen. Aber leider mehren sich inzwischen die Anzeichen dafür, dass die Hoffnung wiederum unerfüllt bleibt[3].
1. Traumatisierung des armenischen Volkes durch den Völkermord im Osmanischen Reich
In seinem politischen Kern ist der Karabach-Konflikt ein Streit um das Selbstbestimmungsrecht des armenischen Volkes und um seinen Wunschtraum, vereint und sicher in einem eigenen Nationalstaat zu leben. Diese Sehnsucht erhielt im Osmanischen Reich während des 19. Jahrhunderts mächtigen Auftrieb. Sie war – wie damals überall in Europa und bald auch darüber hinaus – eine späte geistige und politische Folge der Französischen Revolution[4]. Das erwachende armenische Nationalbewusstsein war durch die konfessionelle Sonderentwicklung der armenischen Kirche und durch ein ausgeprägtes Wissen um die zweieinhalbtausendjährige Geschichte des Volkes und seiner vergangenen Staatlichkeit stark untermauert. Es lehnte sich nun gegen den im Osmanischen Reich jahrhundertelang ertragenen Zustand auf, einerseits im Vergleich zu den ethnischen Türken und Kurden im sozialen Durchschnitt zivilisatorisch überlegen und daher besser gestellt[5], andererseits aber im Zeichen des Millet-Systems[6] Untertanen zweiter Klasse zu sein und immer wieder als Sündenbock für das Versagen osmanischer Herrscher und ihrer korrupten Bürokratie wehrloses Opfer lokaler Pogrome, Massaker und Plünderungen zu werden. Die Untaten wurden meist auf Initiative und mit Deckung der Behörden von aufgehetzten, von sozialem Neid bestimmten Muslimen vor allem zur persönlichen Bereicherung verübt.
Unter Sultan Abdul-Hamid II. (1876-1909) erlangten die antiarmenischen Ausschreitungen eine neue Qualität: erstmals kam es zu zentral gesteuerten Verfolgungen mit dem erklärten Ziel, den armenischen Nationalismus zu bekämpfen und die „armenische Frage“, wie es damals hieß, gewaltsam zu lösen[7]. Den Mordaktionen fielen 1894 – 1896 mindestens 300.000 Armenier zum Opfer. Weit über 100.000 wurden ermordet, ca. 100.000 flohen vor allem ins russische Ostarmenien, zehntausende Frauen und Kinder wurden zwangsislamisiert oder in die Sklaverei verkauft, über 2.500 armenische Dörfer sowie über 600 Klöster und Kirchen geplündert und zerstört, über 300 weitere in Moscheen umgewandelt[8]. Dass die Aktionen nicht einer persönlichen Phobie des berüchtigten Despoten entsprungen waren, sondern tiefere sozio-politische Ursachen hatten, sollte sich nach dem Sturz des Sultans im April 1909 in Kilikien zeigen: von der an die Macht gekommenen jungtürkischen Regierung wurde vor allem in Adana und seinen umliegenden Dörfern ein Pogrom initiiert, bei dem über 20.000 Armenier umgebracht wurden[9].
Die breiteste Blutspur der Armenier-Verfolgung hinterließ der Völkermord von 1915/1916[10], der im Schatten des Ersten Weltkrieges ebenfalls von den Jungtürken begangen wurde[11]. Die monströse Untat kostete mindestens 1,5 Millionen Armeniern das Leben, von sonstigen Verlusten nicht zu reden. Hunderttausende flohen in diesen und in den folgenden Jahren der Kriegs- und Bürgerkriegswirren ins Ausland, ganz überwiegend wie schon im 19. Jahrhundert in den angrenzenden, von Russland beherrschten Südkaukasus. So schrumpfte die Volksgruppe der in Anatolien lebenden Armenier, die noch eine Generation zuvor ca. 4 Millionen gezählt hatte, bis 1922 auf etwa 280.000 Menschen![12]
Diese Leidensgeschichte führt zu der Feststellung, dass das armenische Volk und seine Angehörigen durch Flucht und Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung im Osmanischen Reich kollektiv traumatisiert worden sind. Was diese Tatsache sowohl in individual- als auch in sozialpsychologischer Hinsicht bedeutet und welche Auswirkungen die Traumatisierung für die Erlebnisgeneration, für die Überlebenden eines Genozids und für ihre Nachkommen hat, hat die wissenschaftliche Forschung erst in den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang vor allem mit dem Völkermord des NS-Regimes an den europäischen Juden zu untersuchen begonnen und begriffen[13]. Die Folgen der Traumatisierung sind, nicht zuletzt in sozio-politischer Hinsicht, schwerwiegend. Sie prägen das kollektive Gedächtnis eines Volkes, sind deswegen dauerhaft und belasten das Leben auch der folgenden Generationen. Verantwortliches politisches Handeln hat das sowohl im nationalen als auch im internationalen Maßstab zu berücksichtigen. Politik und Diplomatie stehen hier vor einem politischen Problem mit einer ausgeprägten moralischen Seite. Sie dürfen vor ihr nicht die Augen verschließen, wenn sie glaubwürdig bleiben und den Karabach-Konflikt erfolgreich bewältigen wollen[14].
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[1] Einen kurzen, aber differenzierten Überblick über die Konfliktgeschichte geben Dehdashti, Rexane/ Jacoby, Volker: Krieg um Berg-Karabach. Ursachen eines ethno-territorialen Konflikts, in: Heintze, Hans-Joachim (Hrsg.): Selbstbestimmungsrecht der Völker-Herausforderung der Staatenwelt, Bonn 1997, S. 294-326.
[2] Dehdashti-Rasmussen, Rexane: Der Konflikt um Berg-Karabach: Ursachen, Verhandlungsstand und Perspektiven, in: OSZE-Jahrbuch 2006, Baden-Baden 2007, S. 209-232 (217 ff. m. w. N.).
[3] Die Hoffnungen bekamen durch das Dreiertreffen der Präsidenten Russlands, Aserbaidschans und Armeniens am 2. 11. 2008 in Moskau und die von ihnen unterzeichnete (unverbindliche) Erklärung und darauf folgenden zahlreichen bilateralen Gespräche zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie durch das „Tauwetter“ in den türkisch-armenischen Beziehungen 2009 starken Auftrieb. Zum Moskauer Treffen siehe Kazimirov, V. N.: Mir Karabachu. Posredničestvo Rossii v uregulirovanii nagorno-karabachskogo konflikta, Moskva 2009, S. 315f. (Kazimirov war von 1992-1996 Russlands Vertreter in der OSZE-Minsk-Gruppe. Unter seiner Mitwirkung kam der Waffenstillstand von Bischkek (4.-12.5. 1994) zustande.
[4] Dazu noch immer grundlegend Kohn, Hans: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution, Frankfurt/M 1962, S. 9ff; ferner Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; Hroch, Miroslav: Das Erwachen kleiner Nationen als Problem der komparativen Forschung, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.): Nationalismus (Neue Wissenschaftliche Bibliothek) , Königstein/Ts. 1978, S. 155-172.
[5] Özay, Mehmet: Fundamentalismus und Nationalstaat. Der Islam und die Moderne, Frankfurt/M 1994, S. 161ff.;
[6] Braude, Benjamin/ Lewis, Bernard (eds.): Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society, New York 1982.
[7] Jorga, Nicolae: Geschichte des Osmanischen Reiches. Fünfter Band: Zeit bis 1912 (Gotha 1908-1913), Darmstadt 1990, S. 606 ff.; Bernstein, Eduard: Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas. Rede in Berlin (1902), Nachdruck: Donat, Helmut (Hrsg.): Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas, Bremen 2005, S. 19-53. Wie lebhaft die sich formierende Zivilgesellschaft Russlands auf die Ereignisse regierte, kann man entnehmen: Bratskaja pomošč´ postradavšim´ v´ Turcii armjanam´. Literaturno-naučnyj sbornik, Moskau 1897 (ca. 880 Seiten).
[8] Siehe die Schreckensbilanz im Spiegel und Vergleich verschiedener Quellen und Autoren bei Koutcharian, Gerayer: Der Siedlungsraum der Armenier unter dem Einfluss der historisch-politischen Ereignisse seit dem Berliner Kongress 1878: eine politisch-geographische Analyse und Dokumentation, Berlin 1989, S. 103/104; ferner Mandelstam, André N.: Das armenische Problem im Lichte des Völker- und Menschenrechts, Berlin 1931, S. 24ff.; Kieser, Hans-Lukas: Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839-1938, Zürich 2000, S. 14ff.
[9] Ferriman, D. Z.: The Young Turks and the Truth about the Holocaust at Adana in Asia Minor (April 1909), London 1913; Kieser, a. a. O. S. 286 f.
[10] Gust, Wolfgang (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Springe 2005; Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 1996, S. 54ff.; Ternon, Ives: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert, Hamburg 1996.
[11] Dass es sich um Völkermord im Sinne des Art. II der Antivölkermord-Konvention der Vereinten Nationen vom 9. 12. 1948 handelt, hat der Verfasser auf der Grundlage der dokumentarisch belegten geschichtlichen Tatsachen nachgewiesen. Siehe Luchterhandt, Otto: Der türkisch-armenische Konflikt, die Deutschen und Europa. Hamburg, 2003, S. 19-34; derselbe: Die „Srebrenica-Entscheidung“ des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien und der Völkermord an den Armeniern, in: Armenisch-Deutsche Korrespondenz (ADK) Jg. 2007, Heft 3 (Nr. 137), S. 27-30. Aus der neueren Literatur siehe vor allem Kieser, Hans-Lukas/ Schaller, Dominik J. (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah. The Armenian Genocide and the Shoah, Zürich 2002.
[12] Lang, David Marshall/ Walker, Christopher: The Armenians, 3. Auflage, London 1981 (Minority Rights Group Report, Nr. 32).
[13] Dazu im Überblick Platt, Kristin: Historische und traumatische Situation. Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Extremtraumatisierungen durch kollektive Gewalt und Genozid, in: Dabag, Mihran/ Kapust, Antje/ Waldenfels, Bernhard (Hg.): Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 260 — 278
[14] Eine Annäherung an dieses Problem unter dem Gesichtspunkt des innen- bzw. parteipolitischen Ringens um das Selbstverständnis der Republik Armenien unter der Präsidentschaft Levon Ter Petrosjans unternimmt Jacoby, Volker: Der Genozid als bestimmender Faktor gegenwärtiger Politik in der Republik Armenien: Umrisse eines innenpolitischen Konflikts, in: Armenien. Geschichte und Gegenwart in schwierigem Umfeld, Frankfurt/M 1998, S. 202-237.
Prof. Dr. Otto Luchterhand, geboren 1943 in Celle (bei Hannover); Studium der Rechtswissenschaften, Slawistik und Osteuropäischen Geschichte; Promotion und Habilitation an der Universität Köln; venia legendi für Öffentliches Recht, Osteuropäisches Recht und Kirchenrecht; seit 1991 Professor an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg und dort bis 2008 Direktor der Abteilung für Ostrechtsforschung; ca. 200 Publikationen (ohne Rezensionen), davon ca. 20 Monographien. Sie befassen sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Menschenrechte, der Bürgerrechte und der Grundpflichten im nationalen Recht und im Völkerrecht, mit der Religionsfreiheit und dem Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, dem Status nationaler Minderheiten und Problemen des Föderalismus. Rechtsberatung für die Bundesregierung Deutschlands seit 1992 im gesamten postkommunistischen Raum Europas.
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