Abschnitt aus dem Buch: Lösungsansätze für Berg-Karabach / Arzach, Selbstbestimmung und der Weg zur Anerkennung, Nomos 2010, Vahram Soghomonyan (Hrsg.)
2. Der Kampf zwischen Armenien und Aserbaidschan um Karabach (1918-1921)
Vor diesem Hintergrund stellt die hartnäckige Leugnung des Völkermords nicht nur von Seiten der Türkei, sondern – aus „gesamttürkischer“ Solidarität — auch von Seiten Aserbaidschans[1] zwangsläufig ein besonders sperriges Hindernis auf dem Wege zu politischer Verständigung und gegenseitigem Vertrauen zwischen Armeniern und Azeris dar. Das gilt umso mehr, als die im Südkaukasus lebenden Armenier zum größten Teil Nachkommen der Überlebenden des Völkermords von 1915/16 sowie früherer türkischer und kurdischer Schreckenstaten sind. Schon seit seiner Eroberung durch Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts[2] war der Südkaukasus zum Zufluchtsort für Armenier aus dem Osmanischen Reich und, in geringerem Maße, aus Persien geworden[3]. Dort, im historischen Ostarmenien, hatte sich armenische Herrschaft Jahrhunderte hindurch in den Gebirgszonen des Khanats von Karabach in Gestalt eines Verbundes von fünf Fürstentümern („Melikate“) mit dem berühmten Kloster Gandzasar als kirchlichem Mittelpunkt halten und ihre faktische Unabhängigkeit trotz ständiger Kriege zwischen dem Persischen und dem Osmanischen Reich bewahren können[4]. Hier liegt die Wurzel dafür, dass ´Arzach´, einst zehnte Provinz des altarmenischen Reiches, seit dem 19. Jahrhundert zu einem Symbol für den Freiheitswillen der armenischen Nation insgesamt geworden ist.
1805 wurde Karabach russisches Protektorat[5] und 1813, im Frieden von Gulistan/Nordkarabach, endgültig in das Zarenreich eingegliedert. 1828, im Frieden von Türkmentschaj, musste Persien u. a. auch die Khanate Eriwan und Nachitschewan an Russland abtreten. Aus ihnen wurde am 21. März 1828 das „Armenische Gebiet“ (Armjanskaja oblast´) gebildet. Es bestand jedoch nur für kurze Zeit[6]. An seine Stelle trat 1849 das etwas vergrößerte Gouvernement Eriwan. Karabach und Zangezur wurden dagegen dem Gouvernement Elizavetpol (Gjandscha) zugeschlagen. Die Regierung in Sankt Petersburg lehnte es auch in der Folgezeit aus imperialen und geopolitischen Gründen ab, die überwiegend armenisch besiedelten Gebiete des Südkaukasus zu einer administrativen Einheit zu vereinigen. Auf keinen Fall wollte sie dem armenischen Streben nach Bildung eines Nationalstaates Vorschub leisten[7].
In ihrer Zufluchtsstätte des „russischen“ Südkaukasus waren die Armenier aufs Neue existentiell bedroht, als das Zarenreich zusammenbrach, sich seine Institutionen im Südkaukasus auflösten, die türkische Armee im Sommer 1918 große Teile Ostarmeniens eroberte und Baku besetzte. Unvorstellbar war das Elend der sich damals zu Hunderttausenden auf jenem engen Raume zusammendrängenden teils armenischen, teils auch azerischen Flüchtlinge[8]. Es gab – wechselseitig — viele kleine Pogrome. Das schlimmste fand in Baku unter den Augen der türkischen Armee vom 14. bis 16. September 1918 statt; über 25.000 Armenier wurden von Azeris „abgeschlachtet“, wie man sich damals gewöhnlich ausdrückte[9].
Auch Karabach, um dessen Beherrschung Armenier und Azeris während der kurzlebigen „Aserbaidschanischen Demokratischen Republik“ (28.5.1918 – 2.12.1920) und im Schatten der Pariser Friedenskonferenz mit einander rangen, blieb von Gewaltausbrüchen nicht verschont. Betroffen war vor allem die historische Hauptstadt des Khanats Karabach, Schuscha (Schuschi). Eine bedeutende persische Zitadelle, war sie im 19. Jahrhundert nach Baku und Tiflis zur drittgrößten Stadt im Südkaukasus aufgestiegen, beinahe hälftig von Armeniern (56,5%) und Muslimen (43,2%) bewohnt und ein bedeutendes Zentrum ihrer jeweiligen Kultur[10].
Nach erfolglosen Versuchen, Karabach unter sichere Kontrolle zu bekommen, gab der Rat der Karabach-Armenier dem Druck des azerischen Gouverneurs Sultanov, welcher Karabach im Auftrage und unter Kontrolle der britischen Interventionsarmee regierte, nach und stimmte einer Interimsregelung bis zu dem erwarteten Pariser Friedensvertrag mit der Türkei (Sèvres) zu. Sie wäre, bei gutem Willen beider Seiten, auf ein Kondominium Karabachs hinausgelaufen. Dazu kam es nicht. Denn da Sultanov sich an die Vereinbarungen nicht hielt, reagierten die Armenier am 22. März 1920 mit einem hilflosen Aufstandsversuch in Schuscha, Chankendy (jetzt: Stepanakert)[11] und weiteren Orten[12]. Azerische und türkische Militäreinheiten massakrierten tags darauf die armenische Bevölkerung (über 22.000 Menschen), hängten den Erzbischof auf und verwandelten die armenischen Stadtviertel Schuschas (Schuschis) in eine unbewohnbare Ruinenlandschaft, die später eingeebnet wurde[13]. Das armenische Schuschi hatte aufgehört zu existieren.
Das azerische Schuscha bestand fort. Es wurde das Zentrum der langsam erstarkenden azerischen Minderheit in Berg-Karabach[14] und strahlte stark auf den Rayon von Schuscha aus, der als einziger der fünf Rayons des Autonomen Gebiets bis zum Ende der UdSSR nun mehrheitlich von Azeris bewohnt war[15]. Über sein Territorium und den sich anschließenden „Latschin-Korridor“ verlief während der Sowjetzeit nicht nur die kürzeste, sondern auch die einzige, (allerdings nur schlecht ausgebaute) Straßenverbindung zwischen Berg-Karabach und der Sowjetrepublik Armenien[16].
3. Sowjetrusslands Sonderregelung für das nationale Selbstbestimmungsrecht der Armenier: eine Republik und zwei abgetrennte Autonomiegebiete (Nachitschewan und Berg-Karabach)
Sowjetrussland, das ein Jahr später die volle Kontrolle über den Südkaukasus erlangte, „erbte“ den ungelösten Karabach-Konflikt von den beiden nationaldemokratischen Republiken Armenien und Aserbaidschan. Mit der Rückkehr des Südkaukasus unter die Herrschaft Moskaus konnten die Armenier – trotz der revolutionär veränderten ideologisch-politischen Verhältnisse in Russland – eine neue Hoffnung auf die Erfüllung ihrer nationalen Wünsche hegen, denn die Bolschewiki und Lenin persönlich hatten schon vor dem Oktoberumsturz feierlich, mit großem Nachdruck und immer wieder das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf ihre Fahnen geschrieben[17]. Punkt 1 und 2 der Deklaration der Rechte der Völker Russlands vom 2. (15.) November 1917 proklamierten: „1. Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands; 2. das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker Russlands bis hin zur völligen Lostrennung und Bildung eines unabhängigen Staates.“ Und die „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ vom 16. (29.) Januar 1918 bekräftigte das ausdrücklich und „exklusiv“ für das armenische Volk: “die Freiheit der Selbstbestimmung Armeniens“[18]. Die Bestimmung wurde zusammen mit der Deklaration sogar in die (erste) Verfassung Sowjetrusslands (RSFSR) vom 10. Juli 1918 übernommen (Art. 6).
Gleichwohl entschied sich die Moskauer Führung der RKP(b) gegen die Vereinigung der im Südkaukasus kompakt lebenden Armenier in und zu einer Sowjetrepublik. Neben der Armenischen SSR (Eriwan), die als „Staat“ galt, bildete man noch zwei weitere, de facto armenische Verwaltungseinheiten mit einem geringeren Status, nämlich die Autonome Republik Nachitschewan und das Autonome Gebiet Berg-Karabach, und gliederte sie beide in die Aserbaidschanische SSR ein. Im Falle Nachitschewans kam die Entscheidung auf Druck der Türkei im Zusammenspiel mit der KP-Führung Aserbaidschans zustande. Die Türkei setzte im Vertrag von Moskau mit Russland (16. 3. 1921) durch, dass das „Gebiet von Nachitschewan ein autonomes Territorium unter dem Protektorat Aserbaidschans bildet, mit der Bedingung, dass Aserbaidschan sein Protektorat keinem dritten Staat überlässt“ (Art. III.)[19]. Mit dem „dritten Staat“ war offensichtlich Armenien gemeint.
Moskau schluckte – unter dem bestimmenden Einfluss Stalins — die erstaunliche Klausel, obwohl Nachitschewan durch armenisches Gebiet (Region Sjunik) von Aserbaidschan getrennt, also eine Exklave war und (damals noch) abgesehen vom Iran ausschließlich an die Sowjetrepublik Armenien grenzte, weil es Hoffnungen auf eine politische Allianz mit einer „antiimperialistisch“ eingestellten und sich sozialrevolutionär entwickelnden post-osmanischen Türkei unter Mustafa Kemal („Atatürk“), ihrem neuen starken Mann, setzte[20]. Unter dem Druck und förmlicher Teilnahme Russlands bestätigten die drei südkaukasischen Sowjetrepubliken in dem mit der Türkei am 13.Oktober 1921 in der Stadt Kars[21] geschlossenen „Freundschaftsvertrag“ die Nachitschewan-Klausel (Art. 5).
Eigentlich hätte der Exklave-Charakter des „Gebiets“ Nachitschewan für seinen Anschluss an die Sowjetrepublik Armenien gesprochen. Dafür sprach auch das damalige nationale Profil Nachitschewans. Zwar schwankten die interethnischen, azerisch-armenischen Kräfteverhältnisse in dem Gebiet infolge von Krieg, Flüchtlingsbewegungen und wechselseitigen Vertreibungen erheblich[22], aber mit 40% der Bevölkerung (ca. 50.000) stellten die Armenier 1918 immerhin die relative Mehrheit im Gebiet[23]. Ihnen bot der Anschluss Nachitschewans an Aserbaidschan keine Perspektive. Es war daher absehbar und von türkisch-azerischer Seite auch durchaus erwünscht, dass der Anschluss zur Abwanderung eines beträchtlichen Teils der Armenier führte. Und tatsächlich waren sie bei der Volkszählung von 1926 nur noch eine Minderheit (ca. 10.000) mit anhaltend sinkender Tendenz. Umgekehrt wäre es freilich den in Nachitschewan lebenden Azeris unter armenischer Herrschaft vermutlich nicht anders ergangen. Denn die in dem de-facto staatenlosen Chaos jener Zeit von den Nationalisten beider Volksgruppen wechselseitig aneinander verübten Pogrome und Vertreibungen hatten zu viel Hass angestaut, um ein friedliches interethnisches Zusammenleben erwarten zu können[24].
4. Karabachs Zuweisung an Sowjet-Aserbaidschan durch die KP Russlands
Bei Berg-Karabach lagen die Verhältnisse erheblich anders als in Nachitschewan, denn erstens bildeten die Armenier hier mit über 90% die erdrückende Mehrheit seiner Bevölkerung und zweitens stand die Führung der Russländischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki) [RKB(b)] bei der im Sommer 1921 anstehenden Entscheidung über den Status Karabachs unter keinem massiven türkischen Druck[25]. Moskau nahm vielmehr Rücksicht auf das größere politische Schwergewicht Aserbaidschans. Baku machte vor allem wirtschaftliche Interessen geltend. Die Almwiesen Berg-Karabachs, die besonders von den Azeris der östlich gelegenen Steppendörfer als Sommerweiden genutzt wurden, sollten einer einheitlichen Agrarverwaltung unterstehen.
Die Tatsache, dass das mit der Angelegenheit befasste, politisch zuständige Kaukasische Büro des ZK der RKP(b) am 4. Juli 1921 Berg-Karabach zunächst Armenien zusprach, dann aber am folgenden Tage, am 5. Juli 1921, die Entscheidung umstieß und nun Aserbaidschan den Zuschlag erteilte[26], macht deutlich, dass die RKP-Führung ebenso gut dem Selbstbestimmungsrecht der Armenier gegenüber dem ökonomischen Interesse Aserbaidschans den Vorrang hätte geben können[27]. Dass dies nicht geschah, lag an Stalin[28]. Zwar gehörte er dem Kaukasischen Büro nicht an. Er war aber auf Veranlassung der unterlegenen aserbaidschanischen Seite aus seinem Urlaub im Nordkaukasus herbeigeeilt, hatte eine erneute Befassung mit der Angelegenheit durchgesetzt und sich der Meinung des Vorsitzenden der KP Aserbaidschans, Nariman N. Narimanov, angeschlossen[29].
Stalin vertrat in der Nationalitäten-Politik entschieden die Konzeption, die nationalen Republiken miteinander zu verzahnen und zur solidarischen Kooperation, über die trennenden ethnischen Grenzen hinweg, zu zwingen und die ethnischen Gegensätze zu überwinden[30]. Seine Karabach-Entscheidung entsprach diesem Ansatz. Dass die sowjetische Partei- und Staatsführung unter dem Deckmantel dieser „internationalistischen“ Ideologie faktisch nach dem klassischen Herrschaftsprinzip ´divide et impera!´ agieren konnte und sich damit in der Kontinuität der Kaukasuspolitik des Zarenreiches befand, störte gewiss nicht.
Ob Narimanov sich tatsächlich gegen Stalin gestellt und das Moskauer ZK als höhere Instanz angerufen hätte, wenn Stalin sich anders verhalten hätte, und ob das (1921 nur 25 Mitglieder zählende) ZK der RKP(b) der Forderung der Republik Aserbaidschan gefolgt wäre, ist trotz der Autorität, über die Narimanov damals noch verfügte, ziemlich unwahrscheinlich.
Aus dem Blickwinkel des von der RKP(b) so entschieden vertretenen Selbstbestimmungsrechts der Völker konnte und kann die Entscheidung des Kaukasischen Büros vom 5. Juli jedenfalls keine Legitimität beanspruchen[31]. Denn die Folge der Eingliederung Karabachs in die Republik Aserbaidschan war, dass die damit ebenfalls getroffene Entscheidung über den Grenzverlauf zwischen den beiden Sowjetrepubliken das zusammenhängende Siedlungsgebiet der Armenier zerschnitt. Zwar lagen auf dem zwischen Berg-Karabach und der Armenischen SSR sich ausdehnenden gebirgigen, nur dünn besiedelten Gebietsstreifen eine Reihe kurdischer Dörfer, deren Bewohner teils Schiiten, teils Yeziden waren, und ein paar azerische Dörfer. Das sogenannte „Rote Kurdistan“ zählte (1926) insgesamt 51.200 Einwohner, von denen 37.400 (73,1%) Kurden und 13.520 Türken (26,3%) waren. Der Anteil der Armenier war auf 0,5% (256) abgesunken. Das gab die Begründung dafür ab, daraus 1923 den „Landkreis (uezd) Kurdistan“ mit Latschin als Hauptort zu machen, dem allerdings sämtliche dafür erforderliche Einrichtungen fehlten und der infolgedessen wenig Realitätsgehalt hatte.
Das alles konnte aber die Abtrennung Karabachs von Armenien nicht überzeugend rechtfertigen[32]. Denn das Hauptsiedlungsgebiet der yezidischen Kurden lag in der Republik Armenien, vor allem nördlich von Eriwan (Rayon Aparan). Die armenisch-kurdische Streusiedlung hätte folglich eher für die Einbeziehung der kurdischen Territorien um Kelbadschar und Latschin, zusammen mit Karabach, in die Sowjetrepublik Armenien gesprochen. Das „Rote Kurdistan“ war zwar auch Ausdruck des damals die sowjetische Nationalitäten-Politik beherrschenden Prinzips der korenizacija[33], erfüllte aber primär die Funktion, einen territorialen Sperrriegel zwischen Armenien und Berg-Karabach zu rechtfertigen. Indessen führten der Widerstand der Kurden gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft (1929) und die Einführung von Rayons schon 1930 de facto zur Abschaffung „Kurdistans“. Teils durch forcierte Türkisierung, teils durch Deportation und Abwanderung wurden die Kurden im Weiteren zu einer absterbenden Minderheit in Aserbaidschan[34].
Künstlich zerschnitten wurde durch die 1923/24 erfolgende Grenzziehung Berg-Karabachs auch der ununterbrochene armenische Siedlungszusammenhang mit den nördlich an das Autonomiegebiet angrenzenden Rayons Schaumjan, Chanljar und Teilen weiterer nordwestlich liegender Rayons.
Was die Legitimierung der Entscheidung von 1921 mit den wirtschaftlichen Interessen Aserbaidschans anbelangt, hätte ihnen ebenso gut auch auf andere Weise Rechnung getragen werden können, und zwar umso mehr, als die Volkswirtschaften der Sowjetrepubliken von der RKP(b) bereits zu jener Zeit in die Perspektive zentraler, d. h. republikübergreifender sozialistischer Steuerung gestellt wurden. Das drängendste, am heftigsten diskutierte Problem, nämlich die freie Weidenutzung über die Republik- und Verwaltungsgrenzen im Südkaukasus hinweg, wurde vom Kaukasischen Büro just zu derselben Zeit wie die Status-Frage Karabachs entschieden, und zwar im Sinne eines allgemeinen ungehinderten Zugangs zu den Sommerweiden[35].
Die von Moskau getroffene Entscheidung, die kompakt im Südkaukasus siedelnde Nation der Armenier auf drei Verwaltungsgebiete – einen Staat und zwei an ihn angrenzende, der sowjetischen Nachbarrepublik unterstellte Autonomien aufzugliedern, war in der sowjetischen Nationalitäten-Politik beispiellos[36]. Eine durchschlagende Begründung und Rechtfertigung der Sonderbehandlung des armenischen Volkes konnte man den Betroffenen nicht liefern. Es musste sich daher der Eindruck aufdrängen, dass die RKP(b)-Führung stillschweigend der Meinung war, sie könne dem armenischen Volk eine solche Relativierung seines Selbstbestimmungsrechts zumuten, weil es sich, eingekeilt zwischen der Türkei und den türkischen Azeris, in einer ausweglosen Lage befand, wehrlos war und noch froh sein konnte, nicht völlig vernichtet worden zu sein[37].
Nicht weniger naheliegend war aber auch eine weitere, freilich in eine unbestimmte Zukunft weisende Schlussfolgerung, nämlich dass die Funktionsfähigkeit der „kunstvollen“ Konstruktion, dem armenischen Volk das Selbstbestimmungsrecht lediglich in reduzierter, abgestufter Form zu gewähren, nur unter einer bestimmten politischen Voraussetzung und stabilen Rahmenbedingung gewährleistet war, nämlich der Fortdauer der Sowjetunion unter einem Machtzentrum, das stark genug sein würde, die latenten Nationalismen und Konflikte an ihrer Peripherie unter Kontrolle zu halten. Allein, diese Voraussetzung sollte Jahrzehnte später, im Zuge der Perestrojka Michail Gorbatschows, wegfallen. Dass damit auch die Grundlage der 1921 aus machtpolitischem Kalkül getroffenen Entscheidung über Karabach weggefallen war, ist den Hauptakteuren in der internationalen Staatengemeinschaft – bis heute – verborgen geblieben.
[1] Siehe dazu Manasjan, Tigran: Genocid – sila splačivajuščaja armjan vsego mira (24. 4. 2008: RGGU. Kafedra postsovetskogo zarubež´ja RGGU/ Moskva) www.postsoviet.ru .
[2] Vertrag von Gulistan (Karabach) zwischen Russland und Persien vom 12.10.1813 (alten Stils), Text: Jusefovič, T. (Red.): Dogovory Rossii s vostokom. Političeskie i torgovye, S. Peterburg 1869, S. 208-214; Vertrag von Turkmenčaj (Täbriz) zwischen Russland und Persien vom 10. 2. 1828 (alten Stils), Text: A.a.O. S. 214-227.
[3] Überblick bei Koutcharian, Der Siedlungsraum der Armenier (Anm. 8), S. 179-183; punktuell Bagirov, Fikret: Pereselenčeskaja politika carizma v Azerbajdžane (1830-914gg.), Moskau 2009, S. 57 (Das Buch behandelt die Ansiedlung von Russen.); Auch, Eva-Maria: Muslim – Untertan — Bürger. Identitätswandel in gesellschaftlichen Transformationsprozessen der muslimischen Ostprovinzen Südkaukasiens (Ende 18.- Anfang 20. Jahrhundert), Wiesbaden 2004, S. 103 ff. .
[4] Es handelte sich um Gjulistan, Džraberd, Chačen, Varanda und Dizak. Dazu Nersisjan, M.G. (Red.): Istorija armjanskogo naroda s drevnejšich vremën do našich dnej, Erevan 1980, S. 169ff. Die christlichen Meliks strebten unablässig danach, unter die Oberherrschaft der Zaren zu kommen. Zahlreiche Nachweise dafür bei Parsamjan, V. A. (Red.): Armjano-russkie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov, Erevan 1953; Nersisjan, M.G. (Red.): Armjano-Russkie otnošenija v XVIII veke v 4-ëch tomach, Erevan 1966-1990; zum folgenden auch Donabédian, Patrick/ Mutafian, Claude: Artsakh. Histoire du Karabagh, Paris 1991, S. 28ff.
[5] Vertrag vom 14.5.1805, Text: Rossija i eë „kolonii“, Moskau 2007, S. 434-442.
[6] Agajan, C. C. (Red.): Prisoedinenie vostočnoj Armenii k Rossii. Sbornik dokumentov. Tom I (1801 – 1813), tom II (1814-1830), Erevan 1972/ 1978.
[7] Koutcharian, Der Siedlungsraum der Armenier (Anm. 8), S. 180-186.
[8] Nansen, Fridtjof: Betrogenes Volk. Eine Studienreise durch Georgien und Armenien als Oberkommissar des Völkerbundes, Leipzig 1928, S. 321 f. ;
[9]Ausführlich Volchonskij, Michail/ Muchanov, Vadim: Po sledam Azerbajdžanskoj Demokratičeskoj Respubliki, Moskau 2007, S. 91 f. (In seiner Rezension des Buches von 2008 stellt Ibragim Aliev das Pogrom als frei erfundenes Ereignis hin; abgedruckt in: Azerbajdžanskaja Demokratičeskaja Respublika. Sbornik stat´ej posvjaščennyj 90-letiju Pervoj respubliki, Moskau 2008, S. 87). Siehe auch den Augenzeugenbericht von OTL Paraquin an Generalleutnant von Seeckt, abgedruckt bei Lepsius, Johannes (Hrsg.): Deutschland und Armenien 1914-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, Potsdam 1919, S. 441-446. Zur Rolle der Türkei und dem Ablauf der Ereignisse insgesamt siehe Baberowski, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 145 ff.
[10] Davon zeugen u. a. 17 Kirchen und 12 Moscheen, zahlreiche Schulen, die intensive Pflege sowohl azerischer als auch armenischer Musik, 22 Zeitungen (davon 20 in armenischer, 2 in russischer Sprache), bedeutende Seidenspinnereien und Teppichfabriken. Vgl. Stichwort „Šuša“ in: Brokgauz, F. A./ Efron, J.A. (Hrsg.): Ėnciklopedičeskij slovar´. Tom 79, S.-Peterburg 1904, S. 25/26 (Die Azeris werden hier noch „aderbejdžanskie tatary“ genannt.) Umfassend zur Stadt- und Architekturgeschichte Mkrtčjan, Šagen/ Davtjan, Šors: Šuši. Gorod tragičeskoj sud´by, Erevan 1997, S. 17ff.
[11] Das kleine, 300 Einwohner zählende Dorf Chankendy („Khan-Stadt“) , am Fuße der 600 m höher gelegenen Festung Schuscha gelegen, wich 1923 dem nach Stepan Šaumjan genannten neuen Zentrum des Autonomen Gebiets Berg-Karabach, das 1936 mit 7.300 Einwohnern schon fast so groß war wie Šuša, welches sich von seiner interethnischen Selbstvernichtung 1918/20 nicht mehr hat erholen können. Stichwort „Stepanakert“, in: Bol´šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Band 52, Moskau 1947, S. 850.
[12] Einzelheiten bei Hovannisian, Richard G.: The Republic of Armenia.Vol. I. The First Year 1918-1919, Berkeley 1971, S. 83ff; 156 ff.; 184 ff.; derselbe: Vol.3: From London to Sèvres: Feb.-August 1920, S. 140 ff.; abweichend die Darstellung von Baberowski, Der Feind ist überall (Anm. 23), S. 174f.
[13] In der Sowjetzeit wurden bis Anfang der 1970er Jahre die Ruinen sowie die Friedhöfe endgültig eingeebnet. Siehe die Photodokumentation in dem Album von Mkrtčjan/ Davtjan, Šuši (Anm. 24), S. 65 ff.
[14] Ausführlich zur Bevölkerungsentwicklung während der Sowjetepoche und mit weiteren Nachweisen Luchterhandt, Otto: Das Recht Berg-Karabaghs auf staatliche Unabhängigkeit aus völkerrechtlicher Sicht, in: Archiv des Völkerrechts (AVR, Hamburg) 31. Band (1993), S. 30-81 (75 ff.).
[15] Bei der Volkszählung von 1897 lebten im Kreis gut 140.000 Menschen, davon 58,2% Armenier und 41,2% „aderbejdžanische“ Tataren. Stichwort Šuša, in: Brokgauz/ Efron (Anm. 24), a. a. O.
[16] Atlas avtomobil´nych dorog SSSR, Moskau 1977, S. 33/34; Kavkaz. Atlas Turista, Moskau 1989, S. 60/61.
[17] Zum folgenden siehe vor allen Meissner, Boris: Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, Köln 1962, S. 9-29; S. 148-457 (Dokumententeil).
[18] Die Passage in Abschnitt III.2 lautet: “Der III. Gesamtrussländische Sowjetkongress begrüßt die Politik des Rates der Volkskommissare, der die volle Unabhängigkeit Finnlands proklamiert, den Abzug der Truppen aus Persien begonnen und die Freiheit der Selbstbestimmung Armeniens verkündet hat.“
[19] Text: Dokumenty vnešnej politiki SSSR. Band III, Moskau 1959, S. 597-604
[20] Eingehend zu den Hintergründen und insbesondere zu den unterschiedlichen Positionen Tschitscherins und Stalins: Grant, E.: Armjanskij vopros včera i segodnja, Moskau 1992, S. 24-31.
[21] Das Gebiet Kars war nach dem Russisch-Türkischen Krieg auf dem Berliner Kongress (1878) Russland zugesprochen worden. Die Stadt Kars war zu vier Fünfteln von Armeniern bewohnt (1913), das Gebiet dagegen überwiegend von Muslimen (Türken und Kurden).
[22] Hovannisian, The Republic of Armenia. Vol. I (Anm. 22), S. 228 ff.
[23] Donabédian/ Mutafian, Artsakh (Anm. 18) S. 90.
[24] Baberowski, Der Feind ist überall (Anm. 24), S. 167 ff.
[25] Ausführlich und mit weiteren Nachweisen Luchterhandt, Das Recht Berg-Karabaghs auf staatliche Unabhängigkeit (Anm. 28) S. 49.
[26] Wortlaut der Protokolle beider Sitzungen bei Churšudjan, Lendruš Aršakovič: Istina – edinstvennyj kriterij istoričskoj nauki, Erevan 1989, S. 36-39.
[27] Das juristische Standardwerk der aserbaidschanischen Literatur zum Karabach-Problem geht über die Problematik der Entscheidung des KaukBüros kommentarlos, wie über eine Selbstverständlichkeit, hinweg. Siehe Mammadov, Il´gar/ Musaev, Tofik: Armjano-Azerbajdžanskij konflikt. Istorija. Pravo. Posredničestvo, Tula 2006, S. 35. Krüger (Heiko: Der Berg-Karabach-Konflikt. Eine juristische Analyse, Heidelberg 2009, S. 20) geht zwar auf die zwei Sitzungen des KaukBüros ein, irrt aber mit seiner Meinung, die erste Sitzung habe nur der Vorbereitung der zweiten Sitzung gedient. Vielmehr war das Büro am 4.7. beschlussfähig und hat tatsächlich auch einen gültigen Beschluss – eben zugunsten Armeniens – gefasst. Auf Antrag Narimanovs beschloss es aber ferner, die Sache dem ZK in Moskau als der höheren Instanz zur endgültigen Entscheidung vorzulegen. Dazu kam es indes nicht, weil sich das KaukBüro nun Stalin, seiner Autorität als Volkskommissar für Nationalitäten-Fragen und als mächtiges ZK-Mitglied, beugte, als dieser sich auf die Seite Narimanovs stellte.
[28] Die Behauptung aserbaidschanischer Historiker, Stalin sei bei der zweiten Sitzung nur physisch – wie ein „Statist“ – anwesend gewesen, kann man im Blick auf Stalins Machtstellung in der RKP-Führung, auf seine Schlüsselrolle in ihrer Nationalitäten-Politik, auf die große Bedeutung des Konflikts und das ungewöhnliche Hin und Her seiner Entscheidung nur als grotesk bezeichnen. Am ausführlichsten zum Entscheidungsprozess und speziell zur Rolle Stalins (unter Verwertung des relevanten Archivmaterials) bislang noch immer Grant, E.: Armjanskij vopros včera i segodnja, Moskau 1992, S. 32 ff.
[29] Der Chef des (RKP-) Parteikomitees der Transkaukasischen Grenzmark (Zakkrajkom) und Sekretär des KaukBüros, Sergo Ordžonikidze, hatte für den Anschluss an Armenien gestimmt. Umfassend zu den damaligen politischen Akteuren in Azerbajdžan, zu ihren Vorstellungen und den Machtverhältnissen und insbesondere zur Person Narimanovs siehe Baberowski, Der Feind ist überall (Anm. 24), S. 215ff; 236 ff; 244ff.
[30] Siehe dazu Stalins Hauptreferat „Über die nächsten Aufgaben in der nationalen Frage“, das er auf dem X. Parteitag der RKP (b) im März 1921 in Moskau gehalten hat. Text: KPSS v resoljucijach i rešenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK. Čast´ I (1898-1925), Moskau 1954, S. 553 ff. (556); ausführlich zu Stalins Kurs in der Nationalitäten-Politik im regionalen Kontext Baberowski, Der Feind ist überall (Anm. 24), S. 185ff; 241 ff.; im Rückblick und im Kontext ebenso Michail Gorbatschow: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 478.
[31] Prinzipien des Völkerrechts, zu denen damals das Selbstbestimmungsrecht noch nicht gehörte, verletzte die Entscheidung vom 5.7.1921 nicht, wie Krüger zutreffend feststellt. Siehe Krüger, Heiko: Der Berg-Karabach-Konflikt. Eine juristische Analyse, Heidelberg 2009, S. 49 f.
[32] Babajan, David: Krasnyj Kurdistan: geopolitičeskie aspekty sozdanija i uprazdnenija (2005), Quelle: http://www.noravank.am/ru/?page=print&nid=138.
[33] Dazu im Kontext ausführlich Baberowski, Der Feind ist überall (Anm. 24), S. 316 ff. („Indigenisierung“).
[34] Aliev, I. I.: Ėtničeskie repressii, Moskau 2009, S. 232 f.; Donabédian/ Mutafian, Artsakh (Anm. 18), S. 91.
[35] Zu diesem Komplex eingehend Baberowski, Der Feind ist überall (Anm. 24), S. 253 f. Dass die Entscheidung in der Praxis nicht selten Papier blieb, steht auf einem anderen Blatt.
[36] Zwar war auch das Volk der Osseten trotz seines geschlossenen Siedlungszusammenhanges geteilt, nämlich teils der RSFSR, teils der Georgischen SSR eingegliedert, aber weder Nord- noch Südossetien hatte – im Unterschied zu Armenien – den Status einer Unionsrepublik, d. h. eines Staates. Entsprechendes gilt für die Aufgliederung der Adyge (Tscherkessen) im Nordkaukasus auf drei Autonome Republiken.
[37] So sinnentsprechend auch das Resümee Baberowskis. Vgl. Der Feind ist überall (Anm. 24), S. 245.
Prof. Dr. Otto Luchterhand, geboren 1943 in Celle (bei Hannover); Studium der Rechtswissenschaften, Slawistik und Osteuropäischen Geschichte; Promotion und Habilitation an der Universität Köln; venia legendi für Öffentliches Recht, Osteuropäisches Recht und Kirchenrecht; seit 1991 Professor an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg und dort bis 2008 Direktor der Abteilung für Ostrechtsforschung; ca. 200 Publikationen (ohne Rezensionen), davon ca. 20 Monographien. Sie befassen sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Menschenrechte, der Bürgerrechte und der Grundpflichten im nationalen Recht und im Völkerrecht, mit der Religionsfreiheit und dem Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, dem Status nationaler Minderheiten und Problemen des Föderalismus. Rechtsberatung für die Bundesregierung Deutschlands seit 1992 im gesamten postkommunistischen Raum Europas.
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